Das Gericht hat der Klage des Umwelt- und Verbraucherschutzverbands gegen die Bundesrepublik Deutschland und den beigeladenen Volkswagen-Konzern vollumfänglich stattgegeben: Die Abgasreinigung bei Diesel-Fahrzeugen muss zwischen minus 15 °C bis + 40 °C funktionieren, so die Richter. Abschalteinrichtungen, die unter 10 ° Außentemperatur, nach 15 Minuten Leerlauf oder oberhalb von 1.000 Metern Höhe die Reinigung der Abgase runterfahren oder ganz abschalten, sind unzulässig. Dass das KBA dies über Jahre geduldet hat, war rechtswidrig. Das Gericht hob die Freigabebescheide der Behörde für alle betroffenen Diesel-Fahrzeuge des VW-Konzerns mit dem EA189-Motor auf. Gleichzeitig hat das Gericht das KBA dazu verpflichtet, gegen den VW-Konzern tätig zu werden, damit die Abschalteinrichtungen entfernt werden. Die DUH fordert nun die sofortige Anordnung einer Hardware-Nachrüstung oder eine Stilllegung der Autos mit Entschädigung der Kunden auf Kosten der Autobauer.
DUH-Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch: „Das Urteil ist klare Niederlage für Bundesverkehrsminister Volker Wissing und das ihm unterstellte Kraftfahrt-Bundesamt. Durch die Abschaltung einer ordnungsgemäßen Abgasreinigung in Millionen Diesel-Fahrzeugen werden Millionen Menschen in unseren Städten unnötigerweise hohen, extrem gesundheitsschädlichen Stickstoffdioxid-Konzentrationen ausgesetzt. Das haben der Europäische Gerichtshof und das zuständige Gericht in Schleswig nun sogar schon zum zweiten Mal bestätigt und uns Recht gegeben. Ich fordere Bundesverkehrsminister Wissing auf, seine Kumpanei mit den betrügerischen Dieselkonzernen zu beenden, die Bevölkerung nicht durch weitere Berufungs- und Revisionsverfahren immer länger zu vergiften, sondern das Urteil endlich zu respektieren und umzusetzen. Das Kraftfahrt-Bundesamt muss diese Fahrzeuge stilllegen oder per amtlichem Rückruf eine Nachrüstung mit wirksamer Abgasreinigungstechnik anordnen.“
Insgesamt geht die DUH von rund 8,6 Mio. Diesel-Fahrzeugen deutscher, europäischer und weiterer internationaler Diesel-Hersteller aus, die mit ähnlich unzulässigen Abschalteinrichtungen in Deutschland noch in Betrieb sind. Dadurch stoßen die Pkw bis heute bis zu 40 Mal so viel Stickoxide aus wie erlaubt – extrem gesundheitsschädliche Abgasgifte, die allein in Deutschland für zehntausend vorzeitige Todesfälle jedes Jahr verantwortlich sind. In den kommenden Monaten wird das VG Schleswig sich mit weiteren Klagen der DUH gegen die Bundesregierung zu Betrugsdiesel-Fahrzeugen von Mercedes-Benz, Porsche, BMW, Fiat und 15 weiteren Herstellern beschäftigen.
Rechtsanwalt Remo Klinger: „Wenn das KBA zukünftig als neutrale Behörde ernst genommen werden will, muss es endlich einschreiten und aufhören, insbesondere Volkswagen nach dem Mund zu reden. Die höchstrichterliche Klärung zu diesen Fragen liegt durch mehrere Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs längst vor.“
Nach Aufdeckung des Abgasskandals 2015 durch US-Behörden und danach auch durch Abgasmessungen der DUH war das KBA gezwungen, eigene Überprüfungen anzustellen. Doch anstatt gegenüber den Autoherstellern anzuordnen, dass die illegalen Abschalteinrichtungen zu entfernen sind, wurde in zahlreichen Bescheiden die von den Autoherstellern verwendeten Abschalteinrichtungen (die nach der Außentemperatur, der Höhenlage und der Länge des Leerlaufs in Betrieb gesetzt wurden) für zulässig erklärt, die Bescheide selbst aber geheim gehalten. Nach Auffassung der DUH hätten die Fahrzeuge stillgelegt oder durch eine Hardware-Nachrüstung ertüchtigt werden müssen, um damit die Grenzwerte für die Stickoxidemissionen einzuhalten. Aber nach den Freigabebescheiden des KBA durften die Fahrzeuge weiter auf den Straßen unterwegs sein. Die DUH hat mit ihren Messungen aufgedeckt, dass auch nach den Software-Updates die Luft fast unverändert weiter mit hohen Mengen Stickoxiden verpestet wurde. Daraufhin hat die DUH am 16. April 2018 ein Musterverfahren gegen das KBA eingeleitet. Es zielt auf die Aufhebung eines 2016 erteilten Freigabebescheids für den VW Golf Plus TDI (2,0 Liter) mit dem Motor EA 189 EU5.
Im November 2019 hatte das Verwaltungsgericht Schleswig das Verfahren ausgesetzt, um zunächst zwei Fragen durch den Europäischen Gerichtshof entscheiden zu lassen. Zum einen ging es dabei um die Klagebefugnis der DUH, weil das deutsche Umweltrechtsbehelfsgesetz dies für den Fall der Pkw-Typgenehmigung ausschließt. Zum anderen sollte geklärt werden, unter welchen Umständen Abschalteinrichtungen als legal einzustufen sind. Im November 2022 hat der Europäische Gerichtshof bestätigt, dass die DUH berechtigt ist, gegen das KBA zu klagen. Außerdem stellten die Richter klar, dass die Abgasreinigung in der überwiegenden Zeit ihrer Nutzung auch bei niedrigen Außentemperaturen funktionieren muss. Daraufhin hat die DUH im Februar 2023 das Musterverfahren gegen das KBA gewonnen. Ihm folgte das Verfahren im Streit um 62 weitere Modellvarianten.
VW: „Es sind keine Nachrüstungen erforderlich“. Nach Ansicht von Volkswagen schützt hingegen „das vom KBA geprüfte und richtigerweise bestätigte Thermofenster (...) vor unmittelbaren Risiken für den Motor in Form von Beschädigungen oder Unfällen“. Die Risiken sind laut den Wolfsburgern zufolge so schwerwiegend, dass sie eine konkrete Gefahr beim Betrieb des Fahrzeugs darstellen können. „Fahrzeuge ohne Thermofenster sind daher nicht genehmigungsfähig“, so VW. Der Norddeutsche Autokonzern betonte, dass weder behördliche Stilllegungen drohen noch Hardware-Nachrüstungen erforderlich seien.
KBA und VW haben umgehend Berufung beim Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgericht (OVG) in Schleswig eingelegt. VW kündigte an, auch gegen das neue Urteil Rechtsmittel einzulegen. Neben der Berufung am OVG hat das Verwaltungsgericht wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zudem die Sprungrevision zum Bundesverwaltungsgericht zugelassen.
Antwort des KBA. Die von der Volkswagen AG verwendeten 'Thermofenster' aus Gründen des Motorschutzes und der Betriebssicherheit der Fahrzeuge insbesondere bei niedrigen Außentemperaturen wurden für zulässig befunden, teilweise nach geforderten Anpassungen. Diese Systeme erfüllen die gesetzlichen Anforderungen der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen. (...) Der EuGH hat mit Urteil vom 08. November 2022 (Az. C-873/19) entschieden, dass eine Abschalteinrichtung wie 'Thermofenster' zulässig ist, wenn sie unmittelbar Unfall- oder Beschädigungsrisiken für den Motor vermeiden und eine konkrete Gefahr im Fahrzeugbetrieb darstellen. Nach Auffassung des Kraftfahrt-Bundesamtes liegen diese Voraussetzungen in den streitgegenständlichen Fahrzeugen der Volkswagen AG vor. Zwar hatte das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht in einem Parallelverfahren mit Urteil vom Februar 2023 der Klage der Deutschen Umwelthilfe e.V. stattgegeben, jedoch hat das Kraftfahrt-Bundesamt hiergegen Berufung vor dem Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgericht eingelegt. Eine Entscheidung steht hier noch aus“, so die Behörde. Man werde nun die schriftlichen Urteilsgründe prüfen und über weitere Schritte entscheiden.
Stichwort Thermofenster. DMM hat im Zusammenhang mit der „Diesel-Thematik“, wie sie VW in der Vergangenheit nannte, Thermofenster wie folgt beschrieben: Thermofenster steuern die Abgasreinigung abhängig von der Außentemperatur. Diese Software, die von vielen Automobilherstellern verwendet wird, funktioniert nur innerhalb eines bestimmten Temperaturbereichs einwandfrei. Dadurch stoßen die Fahrzeuge insbesondere bei niedrigen Außentemperaturen mehr Stickoxide aus als gesetzlich vorgesehen. Eine zeitweise Abweichung war beim technischen Stand des Jahres 2008 grundsätzlich erlaubt, jedoch nur innerhalb bestimmter Grenzen und wenn eine reduzierte Abgasrückführung den Motor unmittelbar schädigen würde. Der Bundesgerichtshof in Deutschland hat Schadenersatzklagen von Fahrzeugkäufern allein wegen des Thermofensters bislang zurückgewiesen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat diese Grenzen in einer Präzisierung der Rechtsprechung jedoch sehr eng gezogen.
Sollte die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts Schleswig letztinstanzlich bestätigt werden, könnten deutschlandweit bis zu 10 Mio. Dieselautos betroffen sein. Grundsätzlich haben alle Dieselfahrzeuge solche Thermofenster, auch mit der Abgasnorm Euro 6. Betroffen wären dann so gut wie alle Dieselfahrzeuge aller Hersteller, bei denen die vom KBA genehmigten Thermofenster nachträglich als nicht regelkonform bewertet werden müssten.
Neue Klagewelle könnte drohen. Theoretisch wären Millionen von Dieselfahrern von Stilllegungen ihrer Selbstzünderfahrzeuge betroffen. Denn ohne gültige Zulassung dürften die Fahrzeuge nicht mehr fahren. Für den Fall, dass auf Druck der EU-Gesetzgebung tatsächlich eine Stilllegung erfolgen würde, müsste diese auch verhältnismäßig sein. Und zu erwarten wären Klagen nicht nur gegen die Autohersteller, sondern wohl auch gegen die Behörden kommen.
Nach Ansicht von auf den Diesel-Skandal spezialisierten Anwälten wird es nun eine neue Klagewelle gegen viele Autobauer geben - spätestens dann, wenn die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts bestätigt wird. Die Autos hätten dann einen Mangel, der Käufern eine Rückabwicklung des Kaufvertrags ermöglichen würde. Die Verjährung spielt für die Kläger kein Hindernis; denn die absolute Verjährungsfrist von 10 Jahren (§ 199 Abs. 3 Nr. 1 BGB) ist seit dem Fahrzeugerwerb noch nicht abgelaufen. Quelle: DUH / Focus / DMM