Deutschland braucht Streckenreaktivierungen

Über viele Jahrzehnte verfolgten die verschiedenen Bundesregierungen und Bahnvorstände nur ein Ziel: Rückbau der Schiene, massiver Ausbau des Straßennetzes. Heute haben beide erreicht, dass Deutschland kurz vor dem Verkehrsinfarkt steht. Insbesondere der überbordende Straßengüterverkehr zerstört das Land weitgehend und macht Mobilität beinahe unmöglich. Nun sollen Bahnstrecken-Reaktivierungen retten, was zu retten ist.

291 Städte und Gemeinden mit über 3 Mio. Einwohner/innen könnten durch Streckenreaktivierung ans Schienennetz angebunden werden. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und die Allianz pro Schiene haben ihre Vorschläge für die Reaktivierung von stillgelegten Eisenbahnstrecken in Deutschland aktualisiert und erweitert.

Laut der neuen VDV-Reaktivierungsliste schlagen die Verbände 238 Strecken mit insgesamt 4.016 km Länge zur Reaktivierung vor. "Damit könnten 291 Städte und Gemeinden mit mehr als 3 Mio. Menschen wieder ans deutsche Schienennetz angebunden werden und die Attraktivität des klimafreundlichen Verkehrsträgers Bahn somit weiter steigern", so Jörgen Boße, Vorsitzender des VDV-Ausschusses für Eisenbahninfrastruktur und Geschäftsführer der Usedomer Bäderbahn. Dirk Flege, Geschäftsführer der Allianz pro Schiene, betont: "Mit der Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken können wir den jahrzehntelangen Rückzug der Schiene aus der Fläche stoppen und umdrehen. Das ist ein Erfolgsrezept für einen besseren Verkehrsmix in der Zukunft."

In der neuen Auflage der Reaktivierungsvorschläge sind 55 weitere Projekte mit einer Gesamtlänge von 963 km in ganz Deutschland hinzugekommen. Allein durch die Reaktivierung der fünf Strecken zu den bevölkerungsreichsten Mittelzentren könnten bereits über 300.000 Bürger von neuen Bahnverbindungen profitieren. "Wenn die Eisenbahn das Verkehrsmittel des 21. Jahrhunderts werden soll, dann müssen wir das ganze Land im Blick haben und nicht nur die Großstädte und Ballungsräume oder den Fernverkehr. In Deutschland leben rund 70 % der Menschen in Mittel- und Kleinstädten oder im ländlichen Raum. Für diese große Mehrheit der Bevölkerung benötigen wir effiziente und umweltfreundliche Angebote im Schienenverkehr. Es geht dabei um Klimaschutz, aber auch um die Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen", so Boße. Dirk Flege: "Innerhalb eines Jahres ist bundesweit auf sechs Strecken der Personenverkehr wiederaufgenommen worden. Die Reaktivierung ist eine riesige Chance, um die Schieneninfrastruktur rasch fit zu machen für den Transport von mehr Fahrgästen und mehr Gütern."

Laut Deutschland-Karte der Allianz pro Schiene wurden zwischen 1994 und 2020 Verbindungen mit insgesamt 933 km Länge für den Personenverkehr und 364 km für den Güterverkehr wieder in Betrieb genommen. Allerdings wurden in diesem Zeitraum mit über 3.600 km deutlich mehr Strecken im Personenverkehr abbestellt als reaktiviert. Beim Güterverkehr fällt der Saldo ebenfalls klar negativ aus. Insgesamt hat das Schienennetz derzeit eine Streckenlänge von rund 38.500 km - im Bahnreform-Jahr 1994 waren es noch 44.600 km.

Zum durch den Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und der Allianz pro Schiene vorgestellten Programm zur Streckenreaktivierungen im Bahnnetz erklärt Matthias Gastel, Sprecher für Bahnpolitik: "Die Vorschlagsliste der Verbände zur Reaktivierung von 4.000 Streckenkilometern ist ein starkes Signal für die Renaissance der Schiene in der Fläche. Auf diese Weise können viele Regionen mit ihren Klein- und Mittelstädten wieder an das Schienennetz angebunden werden. Die jahrzehntelange Stilllegungspolitik hat große Lücken in das Eisenbahnnetz gerissen. Es ist überfällig, diese verkehrspolitischen Fehler zu korrigieren.

Für die Verkehrswende ist es unerlässlich, dass der Schienenverkehr auch im ländlichen Raum wieder eine tragende Rolle übernimmt. Damit dieses Reaktivierungsprogramm Realität wird, muss die Bundesregierung jetzt ein Sonderprogramm auflegen, welches die bisherigen Finanztöpfe ergänzt und mit dem der Bund die Kosten weitgehend übernimmt. Für die Korrektur verkehrspolitischer Fehlentscheidungen dürfen Regionen und Länder kein zweites Mal bezahlen. Wichtig ist, dass die Bundesregierung die Planungsprozesse schneller vorantreibt. Die Umsetzung von Schienenprojekten in Deutschland muss zügiger vorangehen." Quelle: Bündnis 90/Die Grünen / DMM