Gedanken zur "Luftbrücke"

Die aktuelle Kolumne von Mely Kiyak auf „Zeit online“ zur Luftbrücke für „gestrandete deutsche Urlauber“ trifft den Nagel auf den Kopf. Die Gedanken der Verfasserin legen den Finger in eine Wunde in einer Zeit, da sich in Deutschland alles nur noch um die Corona-Epidemie dreht.

„Vor einigen Tagen hieß es noch aus dem Außenministerium, dass die Urlauber, ganz egal, wo sie sich auf der Welt befänden, den Anweisungen der lokalen Gesundheitsbehörden folgen mögen. Klang vernünftig. Was soll man auch sonst tun, wenn man sich im Ausland befindet und eine Pandemie ausbricht, außer abzuwarten und sich die Zeit zu vertreiben.

Seit vergangenem Dienstag hat Außenminister Heiko Maas offenbar seine Meinung geändert und verspricht, "alles dafür zu tun, den Tausenden deutschen Reisenden, die im Ausland gestrandet sind, in den nächsten Tagen eine Rückkehr nach Deutschland zu ermöglichen". Um neun Uhr morgens kündigt er die Rückholaktion auf Twitter an, doch am Nachmittag sind es erst 253, denen das gefällt. Das muss ganz schön enttäuschend sein. Da wird ein 50-Millionen-Programm für "gestrandete Deutsche" aufgefahren, die zu Tausenden persönlich durch die Regierung betreut werden, und nur 253 gefällt das.

Interessant ist auch die Wortwahl, mit der man die Aktion beschreibt. Der Außenminister spricht sie als Reisende an, was sehr geschäftig klingt, tatsächlich sind es in der Mehrzahl Urlauber. Ihre Situation wird als "gestrandet" beschrieben. Falls mal jemand echte Gestrandete sehen will, sollte sich Bilder aus dem Lager Moria auf Lesbos angucken, wo 20.000 Flüchtlinge ohne jede medizinische und infrastrukturelle Versorgung festgehalten werden. Das sind Gestrandete.

Ist es wirklich klug, Zehntausende deutsche Urlauber aus aller Welt einzufliegen? Jetzt, wo es darum geht, intersoziale Kontakte zur Prävention zu unterbinden, lässt man in großer Anzahl Menschen, die zuvor auf engstem Raum gemeinsam in Pools schwammen, an der Bar Zungenküsse austauschten, in Flugzeugen eng beieinander saßen, ins Land und verteilt sie auf die Bundesländer? Warum eigentlich? Die Rückholaktion kostet eine Wahnsinnssumme. Wäre es nicht billiger, den Urlaubern in ihren Billiglohnländern vier weitere Wochen im Hotel zu spendieren, und dann kommen sie mit ihren regulären Rückflugtickets nach Deutschland zurück? Könnte man ihnen nicht das bisschen Eigenverantwortung und Urlaubsrisiko, das jede Spaßreise birgt, zumuten, statt einer gefährdeten Bevölkerung eine große Menge an potenziellen Risikopatienten aufzubürden?

Sie haben es doch gut. Müssen deutsche Urlauber eigentlich immer aus dem Bällebad abgeholt werden? Das war bei der Thomas-Cook-Pleite auch schon so. Da wurden Millionenkredite bereit- und Entschädigungen in Aussicht gestellt, weil die Ferien platzten. Urlaub machen hat in Deutschland einen ähnlichen Stellenwert wie das Existenzminimum. Die Bürger glauben, dass es kein wichtigeres Anliegen gäbe als das. Auch die Regierung benimmt sich jedes Mal so, als handele es sich beim Verreisen um eine Art staatlich garantierte Daseinsvorsorge mit Vollkaskoservice und nicht um das, was es wirklich ist, nämlich ein Luxusgut.
Dabei haben es die Urlauber meistens gut, wo sie sind. In Marokko und auf Kuba. Sind doch schließlich Wunschziele gewesen. Bislang las man eine einzige Begründung, die wirklich nachvollziehbar ist, weshalb man die Deutschen nicht ein paar Wochen auf Mallorca und anderswo lassen könnte. Ein Sprecher von TUI wird im Spiegel so zitiert: "Uns ist klar, dass die Gäste nicht mehr in einem Hotel bleiben wollen, in dem die Bar vielleicht noch eine Stunde am Tag geöffnet hat." Das sind in der Tat menschenunwürdige Umstände. Alkoholausschank nur noch eine Stunde täglich.

Bleibt doch! Zurück zu den 253, die sich über die "Luftbrücke" freuen, so wird die Aktion allen Ernstes genannt, als befänden sich die Pauschaltouristen im Kriegsgebiet. Tatsächlich sind die Badelatschenträger in All-you-can-saufen-und-schunkeln-Erwachsenenbetreuungsstätten wie Robinson Club und Co. Wer mal wirklich Leute sehen will, die eine Luftbrücke bräuchten, kann sich Bilder aus Idlib anschauen.
Aber darum soll es nicht gehen, wie man es nennt und dass man es macht. Es geht darum, dass ein Staat Fürsorge für seine Staatsbürger aufbringt und statt dass tausendfach gejubelt und gedankt wird, in was für einem Wahnsinnsland die Deutschen leben, dass einen der Außenminister quasi persönlich nach Hause fliegt, wenn der Urlaub vorbei ist, liest man nur: meckern, jammern, motzen.

Jemand meldet sich auf Twitter aus Peru, wo er zusammen mit 3.000 anderen Deutschen festsitzt, und beschreibt seine Situation: "Seit Sonntag herrscht Ausnahmezustand. Man darf nicht mehr nach draußen. Nur noch, wenn man Lebensmittel und Medikamente kaufen möchte. Wir bekommen keinerlei finanzielle Unterstützung!"

Verzweifelt wie Kinder. Da sitzen die Bürger eines der reichsten Länder der Erde in einem armen südamerikanischen Staat, wo ein Fünftel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt, und beklagen, dass der Steuerzahler sie nicht alimentiert. Mit welcher Begründung soll denn die deutsche Solidargemeinschaft Urlauber im Ausland finanziell unterstützen? Die deutschen Touristen sitzen schließlich nicht in Norwegen fest, wo bereits das Einatmen zwei Goldbarren kostet und man für das Ausatmen den Gegenwert von mehreren Barrel Öl aufbringen muss, sondern in einem Entwicklungsland.

"Hallo. Wir stecken hier in Kayseri Hotel fest. Wir wissen nicht, wie wir in Kayseri weiter vorgehen sollen", schreibt ein Urlauber aus der Türkei. Kayseri, muss man wissen, ist eine sehr schöne kappadokische Stadt im Zentrum der Türkei, die 2.500 vor Christus von den Hetithern bewohnt wurde. Die gesamte Region steht seit den 1960er-Jahren unter Naturschutz, die Berge, die Kirchen, die Höhlen, die Weinberge, es ist ein Paradies! Da in der Türkei Inflation herrscht, bewegen sich sämtliche Lebensmittelpreise auf dem Markt umgerechnet im Centbereich. Man kann sich frei bewegen, niemand muss in Quarantäne. Im Gegensatz zu 3,9 Millionen syrischen Flüchtlingen, die seit Jahren in der Türkei festsitzen und Hunderttausenden von Menschen, die im Gefängnis sitzen. Da sitzt also jemand im Hotel fest und weiß nicht mehr weiter. Im Gegensatz zu Deutschland wird man in der Türkei als Gast ohne Geld nicht im Stich gelassen. Die Menschen sind gastfreundlich. Sie sind es wahrscheinlich überall auf der Welt mehr als in Deutschland. Aber die Deutschen sind, sobald etwas auf ihrer Reise schiefgeht, verzweifelt und hilflos wie Kinder.

Man möchte fast allen Urlaubern zurufen: Bleibt doch, es geht euch gut. Oder registriert euch in dem System, das das Auswärtige Amt eigens eingerichtet hat, um jeden Urlauber wieder zurückzuholen. Keine Panik. Etwas Geduld. Aber vor allem: Nicht vergessen, zu danken! Das ist nämlich keine Selbstverständlichkeit, dass die Regierung Flugzeuge bezahlt und schickt.“ Quelle: https://www.zeit.de/kultur/2020-03/urlaubsreisen-covid-19-deutsche-heiko-maas/komplettansicht / DMM