Schiene soll in verwaiste Regionen zurückkommen

Nach Jahrzehnten des Schrumpfens erlebt die Schieneninfrastruktur in Deutschland ein Comeback. „Die Schiene kommt zurück in Regionen, die lange verwaist waren“, sagte am Montag, 20. Mai 2019, Dirk Flege, Geschäftsführer der Allianz pro Schiene, auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) über Reaktivierungen von Eisenbahnverbindungen in Deutschland.

„Im Koalitionsvertrag hat sich die Bundesregierung eine Verdopplung der Fahrgastzahlen vorgenommen. Wenn wir das erreichen wollen, müssen wir den langjährigen Rückzug der Schiene aus der Fläche stoppen und ihn an geeigneten Stellen rückgängig machen“, so VDV-Präsident Ingo Wortmann.

Allianz pro Schiene und VDV stellen eine wachsende Bereitschaft für die Reaktivierung von Strecken im deutschen Schienennetz fest: „Zunehmend werden stillgelegte Verbindungen reaktiviert, weil die Bürger für ihre Fahrten und Unternehmen für ihre Gütertransporte den Eisenbahnverkehr wollen“, betonte Flege. „Eine von der Bundesregierung beauftragte Studie belegt zudem, dass die Reaktivierung von Schienenstrecken aus Umweltgründen sinnvoll ist“, so Wortmann weiter.

Die beiden Bahnverbände weisen zudem darauf hin, dass es in den letzten Jahren bereits eine Reihe erfolgreicher Reaktivierungsbeispiele gab. „Für den Schienensektor machen die gelungenen Reaktivierungen Mut für die Zukunft und Lust auf mehr“, so Flege. „Zahlreiche reaktivierte Verbindungen werden außerordentlich gut angenommen. Die beeindruckenden Erfolge zeigen, welch gute Zukunft die Eisenbahn in Deutschland mit dem nötigen politischen Willen hat.“ Als positive Beispiele nannte Flege Länder wie Niedersachsen, Hessen oder Baden-Württemberg, die auf Reaktivierungen zur Belebung des Schienenverkehrs setzten. „Einzelne Bundesländer schreiten voran und demonstrieren, dass Reaktivierungen den Schienenverkehr nach vorne bringen können. Dem müssen nun die noch zögerlichen Bundesländer folgen.“

Laut Deutschland-Karte der Allianz pro Schiene wurden zwischen 1994 und 2019 insgesamt 827 km an Verbindungen für den Personenverkehr und 359 km für den Güterverkehr wieder in Betrieb genommen. Allerdings wurden in diesem Zeitraum mit über 3.600 km deutlich mehr Strecken im Personenverkehr abbestellt als reaktiviert. Beim Güterverkehr fällt der Saldo ebenfalls klar negativ aus. Insgesamt hat das Schienennetz derzeit eine Streckenlänge von rund 38.500 km – im Bahnreform-Jahr 1994 waren es noch 44.600 km. „Dieser Schrumpfprozess muss endlich gestoppt werden“, forderte Flege. 

„Die bereits erfolgreichen Reaktivierungen machen zwar Mut, aber der Handlungsbedarf bleibt gewaltig. Die gute Nachricht: das Potenzial für weitere Reaktivierungen ist groß“, erklärte Wortmann. Der VDV hat eine umfangreiche Liste mit Reaktivierungsvorschlägen erarbeitet. Insgesamt kommt der Branchenverband dabei auf 186 Strecken mit 3.072 km Länge. Auf einer entsprechenden Deutschland-Karte wird deutlich, dass nahezu überall in der Republik Reaktivierungspotenzial im Schienennetz vorhanden ist. Reaktivierungen sind laut Wortmann ein besonders einfaches Instrument, um die Nachfrage nach mehr Schienenverkehr schnell zu erfüllen: „Im Einzelfall können unterschiedliche Gründe für einen solchen Vorschlag maßgeblich sein. Es kann z.B. um die Anbindung bisher nicht mehr erschlossener Mittel- und Unterzentren gehen, um die Schließung von Netzlücken zwischen solchen Zentren, aber auch um die Entlastung des Straßennetzes in überlasteten Ballungsräumen oder um die Schaffung von Umgehungsmöglichkeiten für störungsanfällige Eisenbahnknoten.“
Dabei hat der VDV nicht nur Reaktivierungen von Schienenpersonennahverkehr, sondern auch solche für den Güterverkehr oder Personenfernverkehr untersucht. „Ich möchte ausdrücklich betonen, dass die Reaktivierung von Eisenbahnstrecken im Nahverkehr nicht gegen den Bus gerichtet ist“, so Wortmann.

Sowohl Allianz pro Schiene als auch VDV betonten, dass angesichts steigender Fahrgastzahlen und Gütertransporte das Schienennetz dauerhaft gesichert und ausbebaut werden muss. „Deutschland braucht dringend deutlich höhere Investitionen in die Eisenbahn-Infrastruktur, um mehr Verkehr auf die Schiene zu bringen“, sagten Flege und Wortmann abschließend.

Stellungnahme der Grünen. Zum vorgestellten bundesweiten Programm zur Reaktivierung von Eisenbahnstrecken meldete sich auch Matthias Gastel, Sprecher für Bahnpolitik der Grünen-Bundestagsfraktion: "VDV und Allianz pro Schiene tragen mit dem Reaktivierungsprogramm einen wichtigen Baustein zur Verkehrswende bei. Wir brauchen auch abseits der Bahnmagistralen künftig mehr Schienenverkehr, wenn wir die Klimaziele erreichen wollen. Der jahrzehntelange Rückzug der Schiene aus der Fläche muss gestoppt und mit Streckenreaktivierungen umgekehrt werden. Besonders für die vom Schienenverkehr abgehängten touristischen Regionen bergen revitalisierte Bahnstrecken auch regionalpolitische Chancen.

Die vor allem seit der Bahnreform von Kommunen und Ländern angeschobenen Wiederbelebungen von Eisenbahnstrecken zeigen mit ihrer starken Fahrgastnachfrage, dass regionaler Schienenverkehr Zukunft hat. Die Bundesregierung muss jetzt ein Reaktivierungsprogramm als Teil einer ,Investitionsoffensive Bahn' vorlegen. Damit den neuen Regionalbahnen in Zukunft nicht buchstäblich der Weg verbaut wird, ist es notwendig, dass Bund und Länder in einem ersten Schritt alte Bahntrassen in ihrem Bestand sichern.“ In dem ,Bahnantrag' von Anfang des Jahres fordern die Grünen ein Reaktivierungsprogramm über 2.000 Streckenkilometer. Quelle: Allianz pro Schiene / VDV / Bündnis 90/Die Grünen