Unfall beim Auffahren auf die Autobahn

Beim Auffahren auf eine Autobahn hat der auffahrende Verkehr den Fahrzeugen auf der Autobahn grundsätzlich Vorfahrt zu gewähren. Doch wie muss mit der Regelung umgegangen werden, wenn der Verkehr sich staut? Mit dieser Problematik setzte sich das Oberlandesgericht Celle kürzlich auseinander (Urteil vom 23.08.2021, Az. 14 U 186/20) und kam zu dem Ergebnis, dass die Fahrzeuge auf der Fahrspur auch bei Stau gegenüber auffahrenden Verkehrsteilnehmern vorfahrtsberechtigt sind.

Im Verfahren ging es um die Kollision zweier Verkehrsteilnehmer. Der klagende Fahrer eines Ferraris fuhr auf dem Beschleunigungsstreifen einer zweispurigen Autobahn und beabsichtigte, auf die rechte Fahrspur zu wechseln, als es zu dem Zusammenstoß mit dem Lkw des Beklagten kam. Dieser befand sich bereits auf der rechten Fahrspur der Autobahn. Nachfolgend verlangte der Ferrari-Fahrer den vollständigen Ersatz des Schadens an seinem Fahrzeug. Doch bereits genauere Details des Unfallhergangs waren streitig. So trug der Pkw-Fahrer vor, auf dem rechten Fahrstreifen der Autobahn habe Stillstand geherrscht, weswegen er schnellstmöglich auf die Fahrbahn und anschließend auf die linke der beiden Fahrspuren wechseln wollte. Der Lkw-Fahrer behauptet hingegen, der Kläger habe seinen Vorrang nicht beachtet.

Das ursprüngliche Urteil des Landgerichts Lüneburg, in welchem der Lkw-Fahrer als Hauptverursacher drei Viertel der Kosten zu tragen hatte, wurde vom OLG Celle in zweiter Instanz aufgehoben. Denn die Richter sahen die Hauptverantwortlichkeit bei dem Ferrari-Fahrer. Er habe gegen § 18 Abs. 3 StVO (Straßenverkehrsordnung) verstoßen, wonach auf Autobahnen und Kraftfahrstraßen die Verkehrsteilnehmer auf den durchgehenden Fahrbahnen Vorfahrt haben. Nach Einschätzung des zuständigen Senats gelte dies mangels anders lautender Regelungen ebenfalls bei Stau.

Begründet wurde die Entscheidung damit, dass die Vorschrift des § 18 Abs. 3 StVO auch bei einem Stau anzuwenden sei. Das Wort „Vorfahrt“ beziehe sich nicht ausschließlich auf die Bewegung, also das „Fahren“, sondern auf das vom Gesetzgeber eingeräumte Vorrecht der auf der Fahrspur befindlichen Fahrzeuge. Weiterhin habe der Ferrari-Fahrer auch gegen § 10 StVO verstoßen, wonach beim Einfahren auf die Fahrbahn aus einem anderen Straßenteil die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer  auszuschließen sei. Der Beschleunigungsstreifen sei ein anderer Straßenteil, sodass in der vorliegenden Konstellation der sog. Anscheinsbeweis gegen den Einfahrenden spreche.

Mit diesem Urteil bezüglich des § 18 Abs. 3 StVO übergeht das OLG Celle eine Entscheidung des OLG Hamm aus dem Jahre 2018 (Az. 4 RBs 117/18). Damals hatten die Richter aus Hamm ausgeführt, dass zur Anwendung des § 18 Abs. 3 StVO ein Minimum an Bewegung notwendig sei, da bei vollständig ruhendem Verkehr eine ausreichend große Lücke sinnvollerweise genutzt werden könne. Diese Rechtsprechung erscheint mit dem aktuellen Urteil nun überholt.

Im Ergebnis haftete zu drei Vierteln der Ferrari-Fahrer. Das OLG stützte sich im Wesentlichen darauf, dass er ohne vorherige Aufnahme eines Blickkontakts und trotz erkennbaren Risikos auf die Fahrbahn eingefahren sei. Dem Lkw-Fahrer wurde aufgrund der Sichtbeschränkung infolge der Bauart und Größe und der dadurch anerkannten erhöhten Betriebsgefahr seines Fahrzeugs lediglich ein Mitverschulden in Höhe von 25 % des Gesamtschadens zugerechnet. Quelle: www.anwalt.de, RA Charleen Pfohl / DMM