Warum die deutsche Justiz versagt

Kaum ein Tag vergeht, ohne dass deutsche Gerichte skandalös anmutende Urteile fällen: Brutale Gewalttäter erhalten lächerlich milde Strafen, Wiederholungstäter entgehen längst fälligen Haftbefehlen, weil die Verfahren viel zu lange dauern, Freiheitsstrafen werden wieder und wieder zur Bewährung ausgesetzt. Das Vertrauen in unsere Justiz schwindet.

Ein unglaublich spannendes Buch über das deutsche Justizsystem, geschrieben von einem Richter, ist soeben beim RIVA-Verlag erschienen. Foto: RIVA

Skandal- und Fehlurteile sind kein Zufall, sondern systembedingt, sagt Richter Thorsten Schleif. Das deutsche Justizsystem versagt bereits lange vor den eigentlichen Verfahren, bei der Ausbildung und Auswahl seiner Richter. Anhand zahlreicher zum Teil erschreckender Beispiele beschreibt Schleif, wie in Deutschland Richter herangezogen werden, die den Herausforderungen ihres Berufs und unserer Gesellschaft nicht mehr gewachsen sind. Der Zusammenbruch des Rechtsstaates hat bereits begonnen – kann er noch abgewendet werden?

Wie alles begann. „An diesem Abend beginne ich mit der Niederschrift des Buches, das Sie jetzt in den Händen halten. Es enthält Erlebnisse, die ich in mehr als elf Jahren als Richter an einem Landgericht, zwei Amtsgerichten und der Verwaltung eines Oberlandesgerichts gesammelt habe. Aus Gesprächen mit mehr als 1.000 Personen: Staatsanwälten, Wachtmeistern und Rechtspflegern, Geschäftsstellenleitern und Richtern, aber auch Rechtsanwälten, Polizeibeamten, Verurteilten und Rechtsschutzsuchenden. Ich bin mir bewusst, dass in den folgenden Kapiteln viele Dinge angesprochen werden, welche die Justiz ungern in der Öffentlichkeit sieht. Einige Kollegen werden einiges als „Nestbeschmutzung“ ansehen und behaupten, das eine oder andere sei gar nicht so schlimm oder jedenfalls zu drastisch dargestellt. Bereits Kurt Tucholsky bemerkte zutreffend: „In Deutschland gilt derjenige, der auf Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als derjenige, der den Schmutz macht.“ Die zahlreichen Beispiele in den folgenden Kapiteln haben sich tatsächlich so ereignet. Lediglich die Namen habe ich aus Rücksichtnahme auf meine Kollegen geändert“. Der Verfasser Thorsten Schleif, 1980 geboren, studierte Rechtswissenschaften in Bonn und ist seit 2007 Richter in Nordrhein-Westfalen.

Aus dem Inhalt des Buchs. In seinem Buch "Urteil: Ungerecht . Ein Richter deckt auf, warum unsere Justiz versagt“, erschienen im Münchner Riva-Verlag, zeichnet der Richter Thorsten Schleif ein desaströses Bild seines Berufsstands. Richter Thorsten Schleif (39) kennt sich aus im deutschen Justizwesen. Über seine langjährigen Berufserfahrungen hat er nun ein Buch geschrieben. Das 208-seitige Werk ist eine Art Generalabrechnung mit der deutschen Justiz und insbesondere der Richterschaft. Unverhohlen rügt er die „Skandalurteile“ seiner Mitstreiter, die Klüngelwirtschaft in der Justizverwaltung, die seiner Meinung nach völlig überforderten und ineffizienten Gerichte. Berufungskammern brandmarkt er als „Rabattmarkenvereine“, den Deutschen Richterbund (fast 17.000 Mitglieder) als Sammelbecken für Karrieristen und Schlaffies.
Schleif über seine Richter-Kollegen:
•    „Die Schuld für die … als beschissen zu bezeichnende Situation der Justiz suchen meine Kollegen bei Politik, Regierung und veränderter Gesellschaft. Hierbei übersehen sie jedoch, dass die Richterschaft, und zwar jeder einzelne Richter, an der ganzen Misere eine beachtliche Mitschuld trägt.“
•    „Der Urheber eines Skandalurteils ist und bleibt der Richter. Er ist es, der das Urteil spricht. Nicht die Politik. Nicht die Regierung. Nicht die Gesellschaft.“
•    „In den vergangenen zwölf Jahren habe ich etwa 250 Richter … kennengelernt. Darunter großartige Kollegen, aber leider auch nicht wenige ‚Vollpfosten‘.“
•    „Richter kennzeichnet ein hohes Maß an Disziplin und Bequemlichkeit… Welche Eigenschaft kommt hinzu, die den Charakter eines Richters besonders kennzeichnet? … Es ist der Wunsch nach Macht!“
•    „Eine Eigenschaft des Richters fehlt noch, mit der Sie bestimmt nicht gerechnet haben: das mangelnde Selbstbewusstsein. Denn die wenigsten Richter sind selbstbewusst.“

… über die Angst vor harten Entscheidungen:
•    „Für einen Richter ist Entscheidungsschwäche ebenso folgenschwer wie eine Mehlstauballergie für einen Bäcker oder Angst vor Wasser bei einem Rettungsschwimmer. Und doch ist Entscheidungsschwäche unter Richtern weitverbreitet.“
•    „Man darf von Menschen, die Angst vor Verantwortung haben und über ein hohes Maß an Bequemlichkeit und eine gewisse Machtgier verfügen, keine selbstbewussten und zügigen Entscheidungen erwarten.“
•    „Die deutsche Gerichtsverwaltung ist geprägt von einer lähmenden Angst vor Fehlern als dem typischen Karrierehindernis. Hieraus entsteht der Drang, Entscheidungen, wenn irgendwie möglich, zu vermeiden… Das sind klassische Antworten meiner Kollegen auf die Frage, weshalb sie erneut eine Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt oder einen Haftbefehl nicht erlassen haben.“

… über das Versagen des Richterbundes:
•    „Der Deutsche Richterbund ist ein Zwitterwesen zwischen harmlosem Nörgler und unterwürfigem Bittsteller … Es ist traurig und beschämend, einen solchen Haufen wehleidiger Jammerlappen zu sehen.“
•    „Hinzu kommt eine Überzahl von Karrieristen in wichtigen Positionen des Richterbunds … Es liegt auf der Hand, dass unter diesen Bedingungen der Richterbund leider als Interessenvertretung nur die Durchschlagskraft eines veganen Wattebausches hat.“

…über zu lange Gerichtsverfahren und Bewährungsstrafen:
•    „Gerichtsverfahren dauern in Deutschland zu lange. Hiervon sind zirca acht von zehn deutschen Bürgern überzeugt. Und leider haben sie in zu vielen Fällen recht.“
•    „Der kriegt ja eh nur eine Bewährungsstrafe - dieser weitverbreiteten Annahme der Bevölkerung kann man nur mit Empörung entgegenhalten: Stimmt … Denn deutschlandweit werden sieben von zehn verhängten Freiheitsstrafen zur Bewährung ausgesetzt.“
•    „Leider ist es üblich geworden, nicht nur die erste, sondern auch die zweite, dritte, vierte oder fünfte Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen … Viele Kollegen scheuen die Verantwortung, einen Angeklagten in den Knast gebracht zu haben.“
•    „In nicht wenigen landgerichtlichen Berufungskammern für Strafsachen sitzen Vorsitzende, bei denen die Angst vor Verantwortung und die Angst vor Fehlern besonders ausgeprägt ist. Sie wählen oft den bequemen Weg: das Urteil des Amtsgerichts, das ihnen zur Prüfung vorliegt, auf jeden Fall abzumildern.“
•    „Zur Begründung der milderen Strafe ziehen Berufungskammern oft die absurdesten Argumente heran. Eine der beliebtesten Begründungen lautet: Das Strafverfahren hat jetzt … so lange gedauert, dass die Straftat sehr lange Zeit zurückliegt. Daher ist die Strafe zu mildern. Mit anderen Worten: Wenn der Straftäter Berufung einlegt und die Berufungskammer bis zur Entscheidung noch einige Zeit benötigt, dann gibt es allein dafür einen Strafrabatt.“

…über den drohenden Untergang des Rechtsstaats:
•    „Die Lage ist ernst. Die dritte Staatsgewalt steht einen Schritt vor dem Abgrund. Ein weiterer Schritt in die falsche Richtung, und sie fällt tief. Sehr tief. Und wir alle fallen mit ihr.“
•    „Die nächsten zehn bis 15 Jahre sind für das Schicksal des deutschen Rechtsstaats entscheidend. Man muss weder Prophet noch Hellseher sein, um die Folgen der gegenwärtigen Entwicklungen absehen zu können.“
•    „Deutschland im Jahr 2030: Die gewaltige Welle der Richterpensionierungen hat das Land voll erwischt. Nur noch sechs von ehemals zehn Richtern bearbeiten den immer größer werdenden Aktenberg in den Gerichten. Alle Kollegen zeigen Anzeichen eines Burnouts, jeder dritte Richter fällt mehrere Wochen im Jahr wegen stressbedingter Erkrankungen aus. Die übrigen Kollegen sind frustriert, völlig überfordert. Selbst einfache Zivilverfahren dauern etliche Jahre.“
•    „Kriminelle in Untersuchungshaft werden nach sechs Monaten freigelassen, weil die Strafgerichte mit der Bearbeitung nicht nachkommen.“
•    „Die Rechtsprechung übernehmen Bürgerwehren und private Security-Unternehmen, die gegen einen kleinen Aufpreis den gefangenen Straftäter auch gleich ‚aburteilen‘. Es findet sich eine gerechte Strafe. Ebenso schnell und effektiv wie brutal und unmenschlich. Für eine Beleidigung: zwei kräftige Ohrfeigen. Für einen Diebstahl: ein gebrochener Daumen. Für einen Totschlag … Natürlich trifft es auch mal einen oder zwei Unschuldige. Justizirrtümer gab es immer schon.“

…über das fehlende Vertrauen in der Bevölkerung in die Justiz:
•    „Die nächsten 10 bis 15 Jahre werden zeigen, welche Richtung der deutsche Rechtsstaat einschlagen wird. Werden Skandalurteile von unsicheren Richtern, die nicht mehr nur der Wahrheit und Gerechtigkeit dienen, sondern Sklaven ihrer Ängste vor Fehlern und Verantwortung sind, mehr und mehr die Regel sein?“
•    „Wird die Rechtsprechung weiter an Vertrauen in der Bevölkerung einbüßen? Wird die dritte Staatsgewalt weiter an Einfluss verlieren, wird sie von der Regierung kontrolliert und damit faktisch abgeschafft?“
•    „Eine Justiz, der die Bürger nicht (mehr) vertrauen, hat versagt. Verliert der Bürger den Glauben in das Rechtssystem eines Staates, dann verliert der Staat sein Existenzrecht. Das Rechtssystem eines modernen Staates ist wie ein Rückgrat. Wird es gebrochen, ist der Staat dauerhaft gelähmt.“

…über Maßnahmen, mit der sich das System noch retten ließe:
•    „Eine Richterschaft wird niemals ein gesundes und starkes Selbstbewusstsein entwickeln können, solange sie bevormundet wird … Und das haben auch die meisten modernen Staaten begriffen, indem sie eine strikte Trennung der Staatsgewalten – Regierung, Gesetzgebung und Rechtsprechung – in ihren Verfassungen verankert haben. Nur in Deutschland wird dieser Weg, der gut bekannt ist, nicht gegangen. Die Einführung einer Selbstverwaltung für die rechtsprechende Gewalt ist unverzichtbar.“
•    „Die Richterbesoldung muss grundlegend geändert werden. Nicht nur der Richter selbst, sondern der gesamte Rechtsstaat wird entwertet, wenn die Besoldung erbärmlich gering ist … Das Einstiegsgehalt muss auf der ersten Stufe 80.000 Euro, auf der zweiten 90.000 Euro und auf dritter 100.000 Euro betragen. Steigerungen finden nur noch nach jeweils fünf Jahren Richterdienst statt.“
•    „In diesem Zusammenhang muss die Richterbesoldung wieder dem Bund übertragen werden. Die unterschiedlichen Besoldungen durch die Bundesländer führen zu Richterabwanderung (Richterklau) und im schlimmsten Fall zu einer qualitativ unterschiedlichen Rechtsprechung,falls sich nur noch einige Bundesländer ‚gute‘ Richter leisten können.“
•    „Aus- und Weiterbildung der Richter muss eine höhere Beachtung zukommen. Die gegenwärtigen halbherzigen Schulungen der Berufsanfänger an wenigen Tagen sind völlig ungenügend.“
•    „Diese Reformvorschläge sind weder zu teuer noch schwer umsetzbar oder – eine auch immer gern gewählte Ausrede – ‚dem Volk nicht zu vermitteln‘. Es geht alles. Man muss das nur wollen!“

DMM-Tipp. „Urteil: Ungerecht. Ein Richter deckt auf, warum unsere Justiz versagt“, Riva-Verlag - Münchner Verlagsgruppe, 19,99 Euro.; Hardcover, 208 Seiten, erschienen: Oktober 2019; ISBN: 978-3-7423-1150-4 Quelle:  https://www.m-vg.de/riva/shop/article/17318-urteil-ungerecht/ / focus online / DMM